Sonntag, 5. Juli - Donnerstag, 9. Juli 2015
Sonntag
in der Früh erbrach sich Vianne am Hopfensee mehrmals nacheinander, sie weinte,
sie hatte Kopfschmerzen. Wir machten uns schreckliche Sorgen, gaben ihr Zofran
gegen Übelkeit, Novalgin gegen Kopfschmerzen,
legten ihr einen kühlen Waschlappen aufs Köpfchen, denn es war bereits wieder
unglaublich warm - über 30 Grad Celcius. Wir mussten den Campingplatz bis 11
Uhr räumen, also packten wir unsere Sachen zusammen, während sich Vianne
ausruhte. Wir hatten keinen Plan, wohin die weitere Reise gehen sollte. Zudem
hatten wir Luke versprochen, auf dem Hopfensee Kanu zu fahren. Nun waren wir in
einer Zwickmühle: Vianne ging es nicht gut, Luke beharrte auf seinem Recht,
zumal wir ihn am Vortag schon vertröstet hatten. Also willigten wir die
Paddeltour schweren Herzens ein. Der Kanuverleih lgag nicht weit entfernt vom
Campingplatz. Wir parkten das Wohnmobil auf dem öffentlichen Parkplatz am See,
setzten Vianne in den Buggy, kühlten weiterhin ihr Köpfchen und nahmen zur
Sicherheit auch noch die Brechschüssel und ihr Medizin-Pack mit. Nahe des
Kanuverleihs suchten wir uns ein schattiges Plätzchen, wo Vianne sich auf ein
Badetuch kuscheln konnte. Unterdessen liehen sich Micha und die übrigen Kinder
zwei Kanus: Micha fuhr mit Ada, Jesse mit Luke. Vianne schien sich etwas zu
erholen, Übelkeit und Kopfschmerz machten eine kleine Pause. Eigentlich war es eine
gute Idee, noch etwas Zeit am See zu verbringen. Zum einen wussten wir eh nicht
so recht, wo es hingehen sollte, zum anderen wollten wir ungern in diesem
Zustand mit ihr fahren. Nach der Hälfte der Zeit löste ich Micha im Kanu ab. Nach
beendeter Tour fragten wir den sympathischen Kanubesitzer, welcher See in der
weiteren Umgebung zu empfehlen
wäre. Aufgrund des guten Wetters und der Nähe zu München riet er uns vom
Walchen- und Chiemsee ab. "Momentan zu überlaufen", so sein Kommentar.
Da würden wir sicherlich keinen Stellplatz direkt am See kriegen. Und
tatsächlich: die telefonische Bandansage diverser Campingplätze teilte uns freundlich
mit, dass alles belegt sei. Da kam uns der Achensee in den Sinn, kurz hinter
der Grenze, in Österreich. Wir erreichten leider nur den Anrufbeantworter, auf
dem wir eine Nachricht hinterließen. Auf gut Glück fuhren wir erst einmal gen
Westen Richtung Walchensee. Zur Not würden wir einfach an einem kleineren,
unbekannten See campieren. Doch schon nach halbstündiger Fahrt rief uns die
Dame vom Achensee-Camping zurück. Sie hätte noch etwas frei. Also auf zum
Achensee - obwohl mir nicht so richtig wohl dabei war, mit Vianne gerade jetzt
Deutschland zu verlassen. Doch wir hatten so schöne Erinnerungen an den See,
und die Grenze lag wirklich zum Greifen nah. Die Fahrtstrecke war relativ kurz
und schön: vorbei am Tegernsee, durch Bad Tölz und immer an der grünen Isar
entlang, dann über den Achensee-Pass rüber nach Österreich. Vianne ging es die
Fahrt über ganz gut, zumal das Wohnmobil eine prima Klimaanlage hatte. Der
kleine Campingplatz direkt in Achenkirch, den wir noch von unserer
Gardasee-Tour vor sieben Jahren in Erinnerung hatten, hatte sich mittlerweile
zu einem 5-Sterne-Ressort entwickelt, sich aber trotzdem noch seinen Charme
behalten. Zusätzlich gab es nun einen toll angelegten Wasserspielplatz und
direkt daneben einen Abenteuerspielplatz, beides in unmittelbarer Seenähe,
einen kleinen Indoorspielbereich und ein nettes Restaurant mit Dachterrasse.
Bei
der Ankunft am Nachmittag wirkte Vianne allerdings müde und geschafft - sie
wollte noch nicht einmal´zum (Wasser)Spielplatz, während für Ada und Luke kein
Halten mehr war. Irgendwann rappelte sie sich dann doch auf. Während Ada über
die Wiese preschte, schlich Vianne zart und zerbrechlich und wacklig hinterher.
Ich konnte all meine Tränen - Tränen des Mitleids, der Sorge, der Wut, der
Verzweiflung, der Ungerechtigkeit, der Hilflosigkeit - nicht mehr zurückhalten.
Vianne tat mir in diesem Moment so unendlich leid - hier inmitten all dieser
lebendigen, glücklichen, energiegeladenen, lachenden Kinder. Diese Krankheit war
fies, gemein, kaltherzig, erbarmungslos, grausam. Sie hielt Vianne davon ab,
unbeschwert spielen zu dürfen, ohne Einschränkung, ohne Schmerz. Am Abend ging
es ihr endlich etwas besser, und auch ich blühte dadurch förmlich auf.
Lautstark forderte sie eine Pommes (mit Majo und Ketchup), die sie kurz darauf
genüßlich verspeiste. Von einer Minute auf die andere wurde alles wieder leichter.
Vor Erleichterung und um ihr ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, kauften
Ada und ich zwei "Little Ponys" im Camping-Shop: ein gelbes für Ada,
ein rosafarbenes für Vianne. Vianne bestand darauf, persönlich noch einmal den
Laden aufzusuchen, um zu schauen, ob wir die richtige Wahl getroffen hatten.
Prüfend besah sie sich die anderen Ponys - und zeigte sich zufrieden. Später am
Abend spielte ich noch mit den Jungs Federball, nachdem Micha und ich die
kleinen "Mäuse" ins Bett gebracht hatten. Anschließend veranstalteten
wir noch lustige Mutproben am See. Luke stand am Stegende: Er hatte drei Steine
in der Hand. Wenn er eine von Jesse und mir gestellte Frage nicht beantworten
kann (natürlich seinem Wissensstand entsprechend oder Scherzfragen), muss er einen
Stein ins Wasser werfen. Wenn er keinen Stein mehr übrig hat und die richtige
Antwort nicht weiß, dürfen Jesse und ich ihn in den Achensee schmeißen - und
der ist verdammt kalt! So die Spielregel. Unter lautem Protest landete Luke
letztendlich mit einem großen Platscher im See. Am nächsten Abend war Jesse
dran...er hat nicht damit gerechnet, dass Luke sich so gut in der Tierwelt auskennt.
Vianne
baute im Laufe dieses Urlaubs stetig ab. Das wurde uns am Achensee so richtig
vor Augen geführt. Auch am nächsten Tag, am Montag, 9. Juli, wirkte sie weiterhin
erschöpft und kraftlos, wollte weder baden noch schwimmen noch spielen. Später
am Tag wanderten wir zu einem nahe gelegenen Gebirgsbach, der aber leider
ausgetrocknet war. Die Kinder murrten. Vianne schoben wir im umgebauten
Fahrradanhänger. Sie sprach kaum ein Wort. Unterwegs trafen wir auf Almkühe und
freilaufende Pferde - mitten im Wald. Ada war begeistert, ging sofort auf die
Pferde zu, streichelte sie und wusste kaum wohin mit ihrer Freude.
Vianne
saß müde in ihrem Anhänger und blickte teilnahmslos zu den Tieren. In diesem
Moment wusste ich, dass wir ganz schnell zurück nach Deutschland mussten. Ich
bekam Gänsehaut, mitten in der Sonne. Vorzeitig kehrte ich auf ihren Wunsch mit
ihr zum Wohnmobil zurück. Micha kam mit den anderen Kindern
etwas später nach, sie wollten noch einmal an anderer Stelle nach dem Bach
schauen.
Die
Nacht verlief zum Glück relativ ruhig. Ich horchte die ganze Zeit nach ihr. Am
Dienstagmorgen spuckte sie wieder, weinte vor Kopfweh. Kurzerhand brachen wir
unsere Zelte ab. Ursprünglich wollten wir uns noch mit Bekannten in München
treffen, aber Viannes Zustand machte uns solche Sorgen, dass wir kurzerhand absagten.
Wir wollten unbedingt wieder näher an Heidelberg kommen, Vianne aber
andererseits eine nicht allzu lange Fahrt zumuten. Wir entschieden, einen
Zwischenstopp auf einem Bauernhof in der Nähe von Ulm und
dem Legoland einzulegen, wo wir Ende April Adas und Viannes Geburtstag gefeiert
hatten. Auf der Fahrt dorthin schrie Vianne einige Male vor Schmerzen auf.
Immer und immer wieder gaben wir ihr die Schmerztropfen, unsere Nerven lagen
blank. Ich wechselte mit Jesse den Platz, um neben ihr zu sitzen. Irgendwann
verabreichten wir ihr das erste Mal die Morphin-Tropfen - 13 Stück. In Ulm
angekommen, legten wir sie auf eine Decke im Schatten des Wohnmobils, wo ein
leichter Wind wehte. Luke kuschelte sich eng an sie und schaute mit ihr
"Wolkenbilder". Sie schlief lange. Gegen Abend wurde sie aktiver und
besuchte noch mal mit mir die Spielscheune. Hier saß sie vor noch nicht einmal
zweieinhalb Monaten lachend auf dem Holzpferd, hatte sich mit uns in die
rasante Wasserbahn im Legoland getraut, stand allein auf Inlinern - in ihrer jetzigen
Verfassung unvorstellbar. Wir beschlossen, am nächsten Tag, Mittwoch, 8. Juli,
nach Heidelberg zurückzufahren, noch eine Nacht an der Wakeboardanlage zu
verbringen, in Ruhe das Wohnmobil zu säubern und es am Donnerstagmorgen
vorzeitig abzugeben. Mittwochmorgen ging es Vianne scheinbar wieder besser. Sie
biss sogar in ihr Frühstücksbrötchen. Wir schauten uns noch kurz Ulm an und
entdeckten einen coolen Skate-, Surf- und Snowboardladen. Ada verliebte sich sofort in
ein knallrosa Shortboard - für schlappe 230 Euro - und machte einen Affentanz,
weil wir es ihr nicht kaufen wollten. Vianne schaute sich interessiert um,
bewunderte Schmuck und Portemonnaies und Schuhe und alles was glitzerte. Noch
auf dem Weg zurück zum Auto wurde sie wieder müde. Auf der Autobahn kamen wir
immer wieder in einen Stau - und Vianne baute ab, weinte wieder vor Schmerz,
schrie wiederholt auf. Kurz vor dem Campingplatz am Leoner See musste sie sich
erneut schrecklich übergeben. Vor lauter
Angst und Anspannung hatten Micha und ich uns kurz zuvor auch noch lautstark
gestritten. Wir waren so hilflos. Wir riefen Martin und Petra an (die
ursprünglich zum See kommen wollten) und baten sie darum, uns bei ihnen zuhause
zu treffen. Dort verbrachten wir die letzte Nacht unseres Urlaubs. Hier
schließt sich der Kreis.